Die Türken vor Wittenberg – eine Zeitreise

Dass Martin Luther sich wenig pfleglich und kaum unseren heutigen Vorstellungen eines respektvollen Umgangs mit anderen Glaubensüberzeugungen entsprechend über Katholiken, Freikirchen und Juden äußerte, gehört zum Allgemeinwissen. Dass er aber in seine oft sehr erhitzte Apologetik des eigenen und in seine Polemik gegenüber einem fremden Glauben auch mit großer Häufigkeit die „Türcken“ einreihte, ist bisher weniger erforscht.

Umso erfreulicher, dass das neue Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Titel „Reformation und Islam“ und Heinz Schilling in seiner Biografie „Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs“ (Beck-Verlag) einen ersten Zugang zum Umgang verschiedener protestantischer Reformatoren mit religiöser Vielfalt im damaligen politisch-gesellschaftlichen Umfeld vermitteln.

 

Die Türken vor Wittenberg, das erschien Anfang des 16. Jahrhunderts manchen ebenso bedrohlich wie heute. Hatte der klare militärische Sieg der muslimischen Mongolen 1241 in Liegnitz nahe der Grenze zu Brandenburg noch nicht zu einer muslimischen Eroberung Mitteleuropas geführt, weil die siegreichen Muslime aufgrund des Todes ihres Herrschers in ihre Heimat zurückkehrten, stand doch vielen auch ohne tägliche Horrorbilder im Internet die Eroberung Konstantinopels 1453 und zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch mancher mittelosteuropäischer Städte als drastisches Bedrohungsszenario für das christliche Abendland vor Augen. So auch Martin Luther. Nicht umsonst erschienen 1529 zeitgleich seine Schrift „Wider die Türcken“ und der „Kleine Katechismus“. Von dessen Auswendiglernen versprach er sich, dass er alle Christen in die zentralen christlichen Glaubensinhalte Vaterunser, Glaubensbekenntnis, Zehn Gebote so einführt, dass sie auch nach einer möglichen Verschleppung in die Türkei ihren christlichen Glauben bewahren können.

Theologisch verstand er zu dieser Zeit die „Türcken“, wie er damals die Muslime bezeichnete, die er im Blick hatte, als „Rute Gottes“ für die Christen und lehnte deshalb auch einen Kreuzzug gegen sie ab. Je mehr er sich seinem Lebensende nahte, musste er allerdings realisieren, dass die von ihm erhoffte Durchsetzung der protestantischen Reformation als alleiniger Glaubensform eines einigen Volkes jedenfalls nicht zu seiner Lebenszeit zu erwarten war. Umso erbitterter jedoch die Auseinandersetzungen mit anderen protestantischen und konfessionellen Positionen aber auch mit Juden und Muslimen statt deren erhoffter Bekehrung die Situation waren, umso erbitterter wurden auch die Äußerungen von Martin Luther über all diese Gegner, die er nun als Personifizierungen des Satans bezeichnete. Er kritisierte mit scharfen Worten sowohl ihre theologischen Irrtümer wie fehlende Christologie, falsche Interpretation der Trinität als auch ihre vermeintliche Werkgerechtigkeit. Damit deren theologische Irrtümer allgemein bekannt würden, unterstützte er 1542 den ersten Druck einer lateinischen Koranausgabe und schrieb auch das Vorwort dazu.

Zugleich befürchtete er eine Attraktivität der muslimischen Lebens- und Glaubenspraxis auch für Christen und sah im regelmäßigen geordneten Gottesdienst und Gebet der muslimischen Gläubigen, in der züchtigen Bekleidung der muslimischen Frauen durch Verschleierung sowie in deren Ablehnung eines übermäßigen „Fressens, Saufens und Herumhurens“ durchaus Verhaltensformen, die auch Christen zu einer Konversion bewegen könnten.

 

Der Blick, der in dem Impulspapier der evangelischen Kirche auf die zeitgenössischen Positionen reformierter Theologen gegenüber Muslimen geworfen wird, macht die große Bannbreite an Anküpfungspunkten deutlich, die es in der Reformationszeit über Luther in Wittenberg hinaus gab. So zog Huldrych Zwingli (1484-1531) aus der damals weit verbreiteten Einschätzung des Islams als christlicher Häresie die Konsequenz, dass nicht ein militärischer Kreuzzug sondern eine friedliche Mission an den Muslimen von Nöten sei. Theodor Bibliander (1506-1564) griff diese Idee auf und lernte Arabisch, um als Missionar nach Ägypten zu gehen, was er dann aufgab, aber seine Sprachkenntnisse zu diversen Veröffentlichungen über den Islam und Mohammed nutzte. So gab er 1543 die lateinische Koranübersetzung Robert von Kettons mit einem reichen Anmerkungsapparat heraus, der die Bezüge zu biblischen Texten deutlich machte. Heinrich Bullinger (1504-1575) kritisierte den Islam aufgrund seiner fehlenden Christologie und der von ihm als Werkgerechtigkeit interpretierten Erlösungswege wie Fasten, Beten, Spenden theologisch, würdigte jedoch den vorbildhaften Lebenswandel der Muslime im Vergleich zu dem vieler Christenmenschen. Johannes Calvin (1509-1564) verurteilte den muslimischen Anspruch auf eine eigene göttliche Offenbarung als Häresie und Mohammed als Apostaten, der mit der Gründung einer Sekte Christen zum Abfall vom Glauben geführt habe. Zugleich wandte er sich aber deutlich gegen die apokalyptische Bibelauslegung des Danielbuches bei Luther auf die zeitgenössische Situation und betonte, dass die Muslime auch „unser Fleisch“ sind und Christus im Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner den Weg zum Umgang mit Fremden gewiesen hat.

 

Dass es durchaus auch Alternativen zur scharfen lutherischen Abgrenzung bis hin zur apokalyptischen Verteufelung der Muslime als Werkzeuge des Satans in der damaligen Situation war, zeigen die knappen Hinweise auf zeitgenössische Ansätze zu einer allgemeinen Religions- und Kultusfreiheit, die es noch im Reformationsjahrhundert bereits rund um Wittenberg gab. So sicherte 1573 die Konföderation von Warschau sowohl katholischen, orthodoxen, reformierten und lutherischen Christen als auch Juden und Muslimen das Recht auf ihren eigenen Kultus zu. Ob die Erinnerung daran, dass auf dem Gebiet des heutigen Polen mit den meist muslimischen Tartaren der Islam deutlich früher als das Christentum angekommen war, auch heute dort eine größere Offenheit für Menschen unterschiedlichen Glaubens bewirken könnte? Und in den unter osmanischer Herrschaft stehenden Gebieten im heutigen Siebenbürgen und Ungarn wurde unter den bekannt en Bedingungen einer Akzeptanz der politischen Herrschaft auch die Freiheit zum christlichen Glaubensbekenntnis gewährt. Wer erinnert heute unsere mittelosteuropäischen Geschwister daran, dass sie angesichts des „Konsens von Sandomir“ 1570, in dem verschiedene protestantische Richtungen Bekenntnisfreiheit vereinbarten, auf einen damals innovativen und ermutigenden Beitrag zu einem religiös pluralen Zusammenleben in Europa stolz sein können? 

 

Das Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland benennt in einem abschließenden Teil, der in unsere Gegenwart führt, eine neue theologische Verhältnisbestimmung zum Islam als wichtige Aufgabe einer öffentlichen Theologie. Sie zeigt ansatzweise Spuren auf, wie dabei auch die zentralen fünf reformatorischen Erkenntnisse als Anknüpfungspunkte in ein fruchtbares Gespräch mit muslimischen Gläubigen eingebracht werden können. Es gilt die eigenen reformatorischen Einsichten und den eigenen Glauben an die Exklusivität Christi so in die Begegnungen und in den Dialog mit den Geschwistern anderen Glaubens einzubringen, dass die anderen nicht als negative Projektionsfläche sondern als „unser Fleisch“ erkennbar werden, mit denen wir in einer religiös und weltanschaulich pluralen Welt und Gesellschaft gemeinsam leben.  Wenn uns das – trotz des heftigen Gegenwindes - gemeinsam mit Gläubigen aus den verschiedenen Religionen gelingt, steht eine wirkliche  reformatorische Alternative vor Wittenberg, Wien, Konstantinopel/Istanbul, Aleppo und so vielen anderen Orten dieser Welt, aus denen uns derzeit oft eher apokalyptische Nachrichten als Ermutigungen zur Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition in einem pluralen Umfeld erreichen. 

 

Pfarrerin Dr. Gerdi Nützel